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Politik 3.7.19

«Eure Arbeit ist noch nicht getan»

Im Interview spricht Michail Tumasow über die Situation der Community in Russland. Er besuchte die Schweiz anfangs Juni anlässlich eines Network-Charity-Anlasses für Tschetschenien.

Michail Tumasow ist 43 Jahre alt und seit 2017 ehrenamtlicher Vorsitzender des «Russian LGBT Network». Bevor er diese Funktion übernahm, war er LGBTIQ-Aktivist in der sechstgrössten russischen Industriestadt Samara. Für einige Zeit lebte er in St. Petersburg, heute wohnt er aus Sicherheitsgründen in Tiflis, Georgien. Mit Network sprach Michail über die Lage von LGBTIQ-Personen in Russland.

Michail, du bist der einzige eures Netzwerkes, der mit vollem Namen öffentlich auftritt. Warum?
Ja das stimmt. Da stecken Sicherheitsüberlegungen dahinter. Oft werden nämlich unsere Mitglieder Zielscheibe von Drohungen und Gewalt. Wir haben uns darum entschieden, dass Mitstreiter, die sich öffentlich exponieren, anonym bleiben sollten. Für mich als Vorsitzender gilt das allerdings nicht.

Sprechen wir gleich über Tschetschenien. Wie schätzt du die Situation ein?
Grundsätzlich ist die Lage nicht mehr so angespannt, wie noch letztes Jahr. Doch nach wie vor streiten sowohl die russischen als auch die tschetschenischen Behörden kategorisch ab, dass es irgendwelche Hassverbrechen gibt oder gegeben hat. Es finden einfach keine wirklichen Ermittlungen statt. Bei uns melden sich immer noch Menschen, die willkürlicher Gewalt ausgesetzt sind.

Gibt es denn überhaupt noch LGBTIQ-Personen in Tschetschenien? Sind denn noch nicht alle geflohen?
Glücklicherweise gibt es keine Liste von diesen Personen! Wir gehen aber davon aus, dass nach wie vor LGBTIQ-Menschen vor Ort sind. Wir erhalten ja auch Anrufe. Meistens von Frauen…

Von Frauen?
Ja, ihre Situation ist schlimmer als diejenige der Männer.

Warum?
Da geht es um die traditionelle Rolle der Frau. Der Mann im tschetschenischen Verständnis ist ein menschliches Wesen, die Frau etwas weniger. So kann ein Mann relativ einfach zum Beispiel nach Moskau fahren und zu Hause sagen, er suche da einen Job. Frauen können das Land nur mit einem männlichen Verwandten verlassen.

Ein bisschen wie in Saudi-Arabien?
Ja, das kann man durchaus so sagen. Frauen werden gezwungen, Männer zu heiraten. Lesben werden auch umgebracht. Für uns ist es schwierig zu verstehen, wie viele Betroffene es noch gibt in Tschetschenien. Wenn jemand umgebracht wird, gibt es keine Polizeiermittlungen.

Wirklich?
Ja. Es gibt auch Situationen, in denen die Polizei schwule Männer zu ihren Verwandten brachten, um die Sache «zu erledigen». Man spricht dann von «Ehrenmorden»: Man muss die Schande der Familie auslöschen, um die eigene Ehre wiederherzustellen.

Und wie schaut es in Russland aus?
Tschetschenien ist Russland. Die russische Föderation besteht aus 83 Regionen, eine davon ist Tschetschenien.

Eine Network-Sprecherin sagte mir vor einem Jahr, dass in Russland die Angst umgeht, dass homosexuelle Aktivitäten wieder illegal werden. Wie schätzt du diese Aussagen ein?
Sie hatte und hat immer noch recht. Es gibt keinerlei Gesetze, die die LGBTIQ-Community schützen. Ich bin ja kein Prophet und kann nicht sagen, ob sich die Situation jemals verbessern wird. Auch wir sind fast täglich mit Vorurteilen und Diskrimination konfrontiert. Für Sitzungen oder Konferenzen werden uns beispielsweise keine Räume vermietet. Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind traditionellen Verbindungen nicht gleichgestellt, LGBTI-Paare mit Kindern müssen sich fürchten, dass ihnen die Kinder weggenommen werden. In Russland kann man sich als gleichgeschlechtliches Paar nicht als solches auf der Strasse zu erkennen geben. Du weisst einfach nicht, ob du einem homophoben Typen gegenüberstehst. Vor sieben Jahren wurde ich selbst Opfer eines solchen Übergriffes. Der Täter wollte wissen, warum ich nicht verheiratet bin. Danach war ich für drei Wochen im Krankenhaus.

Im Juni bist du nach Zürich gekommen, wo Network einen Fundraising-Anlass für Tschetschenien organisiert hatte. Wie war der Abend?
Wirklich toll. Ich war so gerührt. Ich habe gemerkt, dass den Anwesenden unsere Probleme wirklich zu Herzen gingen. Das berührte mich sehr. Es tat so gut zu sehen, dass es Menschen gibt, die nicht einfach zufrieden sind, wenn sie genügend Geld zum Leben haben; sondern dass sie Menschen mit Gefühlen und Emotionen sind. Um ein Aktivist zu sein, muss man nicht erst zusammengeschlagen worden sein oder erst mal Probleme mit der russischen Polizei gehabt haben. Es reicht das Gefühl, dass ich ein Teil dieser Welt bin. Ich bin Network so dankbar, dass dieser Anlass organisiert wurde.

Hat der Abend also deine Erwartungen erfüllt?
Weit mehr als das!

Abgesehen von Geldspenden: Wie können Schweizer euch bei eurem Engagement unterstützen?
Ihr müsst die Arbeit innerhalb eures Landes fortsetzen. Die Schweiz hat zwar schon vieles für die Community getan, da liegt aber noch einiges mehr drin. Wenn wir Russen sehen, wie sich die Situation in anderen Ländern mehr und mehr «normalisiert», hilft uns das und gibt uns Hoffnung, dass wir ähnliches auch in Russland erreichen können. Auch das moderne Europa ist mit Herausforderungen konfrontiert: Wir dürfen nicht zulassen, dass die extreme Rechte alles Erreichte und die Gleichstellung in Frage stellt und uns in der Geschichte zurückwirft.

Interview: Michel Bossart
Bild: zur Verfügung gestellt

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