Politische Kommission PoKo 6.7.21
Geflüchtet, geschnappt und zurückgeführt

Die PoKo unterstützt nicht nur das LGBT-Filmfestival in St. Petersburg, sondern auch das Russian LGBT Network. Dieses Engagement in Russland ist dringend nötig, wie der Fall der gekidnappten Halimat zeigt.
Die Politische Kommission (PoKo) von Network beschäftigt sich einerseits mit dem aktuellen politischen Geschehen im Inland – im Moment natürlich mit der Abstimmung über die Ehe für alle – andererseits setzt sie sich punktuell auch im Rest der Welt ein und unterstützt ausländische Partnerorganisationen im Rahmen ihrer Möglichkeiten finanziell.
Eines der Länder ist Russland, inklusive der autonomen russischen Republik Tschetschenien.
Russland allgemein In Russland unterstützt Network seit Jahren das Filmfestival «Side-by-side», das in St. Petersburg und anderen russischen Städten aktiv ist. Peter Christen pflegt einen regelmässigen Kontakt mit den Organisatoren und informiert sich über die aktuelle Lage. Manny de Guerre, Gründerin des Festivals, beschrieb ihm die Lage in Russland Mitte Juni so: «Die Lage spitzt sich zu und die Behörden verstärken die Kontrolle in allen Bereichen (Politik, Medien, Zivilgesellschaft). Zunehmend werden ‹normale› Aktivitäten kriminalisiert, was zu einer grösseren Angst und einer Selbstzensur in der Bevölkerung führt. Vermehrt verzeichnen wir Angriffe auf unabhängige Politiker, Medien und kulturelle Aktivitäten, die von einem liberalen Gedankengut geprägt sind. Zielscheibe sind oft die Jugend und die Orte, an denen sie sich versammelt: Konzerte, Clubs, Bars etc. Es werden Polizeikontrollen durchgeführt und Veranstaltungen aufgelöst.»
Und zum Filmfestival meint sie: In Bezug auf das letzte Festival im November 2020 haben wir beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine Beschwerde eingereicht. Bis zum nächsten Festival organisieren wir Online-Events und Podcasts, die übrigens sehr beliebt sind. Das nächste Festival wird vom 11. bis 25. November 2021 wiederum in St. Petersburg stattfinden. Wir planen eine Hybridversion und werden versuchen, auch einige Offline-Veranstaltungen durchzuführen.» Zur Erinnerung: Das Festival wurde 2020 nicht nur schikaniert und bedroht, sondern die Live-Vorstellungen wurden verunmöglicht mit der Begründung, man hätte gegen die Covid-Massnahmen verstossen. Gegen die Strafen, die deshalb ausgesprochen wurden, haben sich die Festival-Organisator*innen durch mehrere Instanzen gewehrt und sind nun an den EGMR gelangt.
Tschetschenien Die andere Network-Aktivität in Russland betrifft Tschetschenien. Hier steht die PoKo im engen Austausch mit den Verantwortlichen des «Russian LGBT Network». Peter sagt: «Es scheint, dass derzeit mehr und mehr Personen, die aus Tschetschenien flüchten konnten, wieder dorthin zurückgeschafft werden.» Aktuell sorgt der Fall der gekidnappten Halimat Taramova für Aufsehen:
Halimat stammt aus der tschetschenischen Hauptstadt Grosny. Nachdem sie sich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung als Opfer ständiger Verfolgung und Misshandlung bis hin zu Schlägen und Drohungen von Familienmitgliedern wiederfand und die letzten sechs Monate praktisch im Haus eingesperrt verbrachte, ohne die Möglichkeit, mit der Aussenwelt in Kontakt zu treten, wandte sich Halimat am 28. Mai 2021 aus Angst um ihr Leben an das Russian LGBT Network. Am 4. Juni flog eine Freundin zu Halimat nach Grosny, die ihr helfen wollte. Die verantwortliche Person des Emergency Assistance Programms des Russian LGBT Network schreibt: «Jede Evakuierung erfordert normalerweise eine seriöse Vorbereitung. Nachdem uns bekannt wurde, dass Anna in Grosny angekommen war, hatten wir keine andere Wahl, als die beiden sofort ausser Landes zu bringen.» Anna und Halimat verliessen Tschetschenien noch am selben Tag und gingen an einen vermeintlich sicheren Ort – in ein Schutzhaus in Machatschakala, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Dagestan.
Dort blieben sie bis am 10. Juni, als die Wohnung am späteren Abend von dagestanischen Polizsten und tschetschenischen Vollstreckern belagert und geräumt wurde. Nach behördlichen Verhören und vergeblichen Bitten, Halimat möge zurück nach Tschetschenien zu ihrem Ehemann und Familie kommen, wurde Halimat unter Vortäuschung falscher Tatsachen letztendlich mit Gewalt in ein Auto gezerrt und (wahrscheinlich) zurück nach Grosny gefahren. Die Anwälte des Russian LGBT Network können das nicht mit Sicherheit bestätigen, da sie keinerlei Lebenszeichen von Halimat erhalten haben.
Die prekäre Situation in denen sich Menschen aus der LGBT-Community in Tschetschenien befinden, wird in zwei Filmen anschaulich und eindrücklich vermittelt. «Welcome to Chechnya» und «Silent Voice» thematisieren die Schwierigkeiten in denen sich tschetschenische Menschen, die nicht der Heteronorm entsprechen, befinden.
Hilfe «Die Lage ist ganz Russland ist beunruhigend», sagt Peter, «Networks Engagement ist darum sehr gefragt und willkommen.» Die Verantwortlichen des Russian LGBT Networks sind froh um jeden Franken, den sie für die Fluchthilfe bedrohter Menschen einsetzen können. Es zähle aber auch die ideelle Unterstützung, versichern sie. Denn nur wenn über Fälle wie derjenige von Halimat weltweit diskutiert wird, wird sich auf lange Frist etwas in Tschetschenien ändern.
Text: Michel Bossart