Wahlen 2019 6.11.19
Gleiche Rechte und Pflichten für alle

Der Grüne Nicolas Walder wurde von den Genfern in den Nationalrat gewählt. Der schwule Gemeindepräsident von Carouge spricht im Interview über seine Ziele und Visionen für die Schweiz.
Nicolas Walder, herzlichen Glückwunsch zu Ihrer erfolgreichen Wahl in den Nationalrat. Wie fühlen Sie sich?
Vielen Dank! Ich freue mich sehr über meine Wahl und auch über den historischen Erfolg der Grünen. Dies zeigt, dass unsere klaren Positionen zu Klima- und Umweltfragen sowie zur Gleichstellung, zum Kampf gegen Diskriminierung und zur Weltoffenheit der Schweiz gut aufgenommen wurden. Es war ein ziemlich verrücktes Jahr: Mehr als 100’000 Menschen gingen in Bern auf die Strasse, um das Klima zu verteidigen. In Genf waren es mehrere 10’000 Leute, die sich während des Frauenstreiks oder der Pride für ihre Rechte auf der Strasse einsetzten. Das ist fantastisch!
Ende September haben Sie an einer kleinen Wahlveranstaltung von Network teilgenommen und über LGBTIQ-Fragen debattiert. Welchen bleibenden Eindruck hat die Diskussionsrunde bei Ihnen hinterlassen?
Es ist zwar wahr, dass die «Ehe für alle» und die Kriminalisierung von Hassrede in Genf nicht mehr wirklich diskutiert werden müssen. Lediglich die SVP und die EDU widersetzten sich weiterhin dieser Thematik. Glücklicherweise besitzt die extreme Rechte in meinem Kanton kein grosses Gewicht! Die Debatte ermöglichte es aber auch, andere Themen, die im Mittelpunkt der LGBTIQ-Fragen stehen, zu behandeln. Ich denke da an das Abstammungsrecht oder an den Zugang zur künstlichen Fortpflanzungsmedizin, deren Zugang für gleichgeschlechtliche Paare von der SVP und der CVP auf nationaler Ebene angefochten wird. Und ich denke auch an die Frage der Streichung des Geschlechts aus den Dokumenten zum Personenstand. Denn wenn wir eine offenere Gesellschaft schaffen und Sexismus, Homophobie und Transphobie wirksam bekämpfen wollen, müssen wir uns zwangsläufig vom binären Geschlechtssystem lösen, in das wir in unserer patriarchalischen Gesellschaft hineingeboren wurden. Leider wird dieses Thema in politischen Debatten allzu selten angesprochen.
Sie sind Gemeindepräsident von Carouge und selbst schwul. Gab es auch schon mal Situationen, in denen sie wegen Ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert oder belästigt wurden?
Ob es sich nun um meine politische oder berufliche Laufbahn handelt, im IKRK und als Direktor einer sozialen Institution, ich erinnere mich nicht, dass ich jemals diskriminiert oder belästigt wurde. Es stimmt auch, dass bei den Grünen homophobe Äusserungen oder Handlungen sofort sanktioniert werden. In meiner Partei steht es selbst für Heteros an der Tagesordnung, an der Pride auf einen Lastwagen zu steigen!
Seit ich 2011 Mitglied des Stadtrats geworden bin, ist es schon vorgekommen, dass ich unangemessenen Anspielungen ausgesetzt worden bin. Das war aber glücklicherweise sehr selten und sie stammten hauptsächlich von Machos und anderen konservativen Individuen. Es sind die gleichen Menschen, die sich der «Ehe für alle» widersetzen und die es nicht akzeptieren, die Macht mit Frauen zu teilen.
Sie sind eine schwule Führungskraft und eigentlich prädestiniert für eine Mitgliedschaft bei Network. Dürfen wir bald mit einem Beitrittsgesuch rechnen?
Vielen Dank für diese Einladung, die mir schmeichelt. Ich finde die Aktionen von Network sehr positiv und gratuliere Ihnen dazu. Nun gilt es aber erst, mich in meiner neuen Position in Bern voll zurechtzufinden und einzubringen und meine Bemühungen um mehr Klimaschutz und soziale und menschliche Gerechtigkeit fortzusetzen. Gleichzeitig werde ich auch in mein eigenes Netzwerk von Vereinen und Verbänden investieren – je nach Möglichkeit und den anstehenden Sachfragen. Es ist daher durchaus möglich, dass wir uns bald wieder treffen werden, um meinen Antrag auf Mitgliedschaft zu diskutieren.
Als grüner Politiker sind Ihnen im Nationalrat zweifelsohne Umweltanliegen wichtig. Werden Sie sich in Bern auch für die LGBTIQ-Community engagieren?
Natürlich werde ich alle Formen der Diskriminierung aktiv bekämpfen und die Forderungen der Community im Rahmen meiner Tätigkeit in Bern so weit wie möglich unterstützen. Ich bin bereits in der parteiinternen LGBTIQ-Gruppe dabei und auch auf nationaler Ebene tätig. Und wenn mir noch Zeit bleibt, engagiere ich mich in weiteren Vereinen, aber a priori eher in Genf, dem Kanton, in dem ich lebe.
Zum Schluss: Wie sieht die ideale Schweiz für Sie aus und wie viel davon soll in den nächsten vier Jahren realisiert worden sein?
Mein Ideal ist eine ökologische, gleichgestellte und weltoffene Schweiz – fortschrittlich und selbstbewusst. Eine Schweiz, die keine Angst hat, allen ihren Bewohner*innen die gleichen Rechte und Pflichten einzuräumen. Eine Schweiz, die nicht zögert, ihre Wirtschaft zu verändern, um der Herausforderung des Klimawandels zu begegnen. Eine Schweiz, die sich von den Lobbys emanzipiert und ihre Strukturen langfristig reformiert. Eine wirklich partizipative Schweiz, in der das kollektive Interesse und die Würde aller im Mittelpunkt der Politik stehen.
Ich bin zuversichtlich, dass wir angesichts der neuen Zusammensetzung des Nationalrates und mit Unterstützung der ganzen Gesellschaft in den nächsten vier Jahren konkrete Fortschritte in Richtung dieser idealen Schweiz machen können. Die «Ehe für alle» ohne Einschränkung wäre bereits ein wichtiger Schritt in diese Richtung!
Interview: Michel Bossart