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Im Interview
 10.2.25

Vorkämpfer, Aktivist, Glückskind: Ernst Ostertag wird 95

Ernst Ostertag
No photos please: Ernst Ostertag so rebellisch und «gay» wie eh und je (Foto: Giovanni Lanni)

Ein Pionier der Schweizer Schwulenbewegung, der bis heute seine Stimme erhebt: Am 21. Januar feierte das network-Ehrenmitglied Ernst Ostertag seinen 95. Geburtstag.

Nachträglich alles Gute zum 95. Geburtstag, lieber Ernst! Wie hast du deinen Ehrentag erlebt?
Es war eher still. Genau das habe ich genossen. Allerdings: Ich hatte zwei Nachbarn zu einem kurzen Besuch und sass gute vier Stunden am Telefon, nicht am Stück, aber immer wieder. Mit Freunden und Bekannten zu plaudern, ist doch die sinnvollste Tätigkeit an einem solchen Tag. Abends besuchten Giovanni und ich ein Konzert des «schmaz». Das war für mich ein echter Höhepunkt des Tages. Giovanni ist ohnehin mein grosses Altersgeschenk. Mit ihm führten Röbi und ich 15 Jahre lang eine Partnerschaft zu dritt; seit seinem Tod sind wir nun zu zweit.

Röbi Rapp wäre in diesem Jahr ebenfalls 95 geworden. Wie sehr ist er heute noch in deinen Gedanken und deinem Leben präsent?
In meinem Herzen ist er immer da, wie auch im Herzen von Giovanni. Das verbindet.

Mit Röbi hast du die Internetseite Schwulengeschichte.ch aufgebaut, auf der du weiterhin aktiv bist. Du hast dich zudem kürzlich für die Rettung zweier Kleintheater eingesetzt. Gibt es aktuell weitere Projekte? Was beschäftigt dich gerade?
Mich beschäftigt immer vieles. Eigentliche Projekte sind nicht vorhanden, Kleinigkeiten aber treten laufend heran. So werde ich am 12. Februar beim network-Anlass zur Zürcher Stadtpolizei etwas mitmischen, Details sind noch geheim. Im Herbst bat mich eine Firma, im Dolder Grand als Model für Seiden-Accessoires aufzutreten. Nie hätte ich an so etwas gedacht, also sagte ich zu. Eine unvergessliche Erfahrung. Nun soll ich für eine Werbekampagne derselben Firma gefilmt werden. Es gehe um Liebe, eine alte Person ergäbe den erwünschten Kontrast. Da bin ich gespannt.

Es ist wirklich bemerkenswert, mit 95 so fit zu sein. Ist das vor allem eine Frage der Lebensweise und Lebenseinstellung? Oder gehört auch ein bisschen Glück dazu?
Beides. Ich bin ein Glückskind. Wörtlich, denn ich wuchs vor und während des Zweiten Weltkriegs im steten Bewusstsein auf, dass jederzeit Bomben fallen und alles zerstören könnten. Sicherheit gab es nicht. Das hohe Alter mag auch Sache der Lebenseinstellung sein. Wenn alles – restlos alles – relativ ist, kann kein Anklammern entstehen. Damit wächst das Loslassen-Können und wird zum Lebensgrund.

Vielleicht hält dich auch dein soziales Engagement vital! Hättest du es in den 50er-Jahren für möglich gehalten, dass Schwule mal «richtig» heiraten dürfen? Und hast du manchmal Angst, dass es Rückschritte geben könnte?
Die traditionelle Ehe kopieren, das wollte ich nie. Aktiven Einsatz auch für die «Ehe für alle» zu leisten, gehörte selbstverständlich zum grundlegenden Kampf um gleiche Rechte und Akzeptanz, den ich gemeinsam mit allen Homosexuellen führte. Selbst wenn wir uns damals das Fernziel «Homopartnerschaft = Homoehe» kaum vorzustellen wagten.

Weshalb nicht?
Ich sehe uns mit Michel Foucault als eine eigene Spezies. Unsere Natur ist queer, also sind wir anders. Und das hat, wie die Natur überall zeigt, viele Varianten. Unsere Emanzipationsbewegung hat fast alles erreicht, weil wir als Minderheit die Mehrheit der Mitbürger überzeugen konnten. Wenn wir jedoch der Mehrheit Veränderungen aufzwingen wollen, wie es mit der Gendersprache und der Woke-Bewegung teilweise geschah, wird eine Gegenbewegung ausgelöst. Sie ist mit Trump sichtbar im Gange und schwemmt auch von uns Erreichtes weg, wie beispielsweise die Diversity-Programme. Das wirft uns um Jahrzehnte zurück.

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